Glarus vor 240 Millionen Jahren: Diese verrückten Echsen lebten im Glarnerland, als es eine tropische Lagune war
Wir drehen an der Zeitmaschine und machen einen Strandspaziergang im urzeitlichen Glarnerland. Dort trifft man auf schnelle Jäger und bizarre Langhalsreptilien. Und unvorstellbar kräftige Stürme.
Wir drehen an der Zeitmaschine und machen einen Strandspaziergang im urzeitlichen Glarnerland. Dort trifft man auf schnelle Jäger und bizarre Langhalsreptilien. Und unvorstellbar kräftige Stürme.

Nach unseren ersten Stationen in der Eiszeit und im Oligozän reisen wir tiefer in die Vergangenheit. Wir drehen erneut an unserer Zeitmaschine. Die Millionen Jahre rasen an uns vorbei. Die meiste Zeit überflutet ein Meer das Glarnerland. Die Sonne am Himmel steigt immer höher – das Glarnerland bewegt sich auf den Äquator zu. Es wird immer heisser und trockener.
Wir halten unsere Zeitmaschine an. Wir befinden uns 240 Millionen Jahre vor unserer Zeit. Es ist das Zeitalter des Mittleren Trias. Wir haben die Dinosaurier übersprungen.
Vor uns erstreckt sich Schlamm, so weit das Auge reicht. In unserem Rücken liegt irgendwo die Küste einer grossen Insel. Die Luft ist heiss und trocken und uns weht ein Wind entgegen, der einen salzigen Geschmack auf der Zunge hinterlässt. Am Horizont ziehen dunkle Wolken auf.

Als das Glarnerland eine Lagune war
Am Rand dieser Lagune liegt also das Glarnerland. Zeit für einen Strandspaziergang. Unsere Füsse sinken im nassen Boden ein, während wir dem Horizont entgegengehen. Nach vielleicht hundert Metern stehen wir vor einem urtümlichen Fisch, der hilflos am Boden liegt und uns mit aufgerissenen Augen anstarrt. Vor Kurzem muss er noch im Meerwasser geschwommen haben. Irgendetwas stimmt hier nicht. Es ist, als hätte jemand dem Meer den Stöpsel gezogen. Der Wind wird stärker und wirbelt den Sand der vorgelagerten Dünen in der Lagune auf.
Wir entdecken eine Fährte im feuchten Boden. Die Fussabdrücke sind etwa 25 Zentimeter gross. Vier Zehen zeigen nach vorne, der fünfte Zeh zeigt, abgewinkelt wie ein Daumen, nach aussen. Wir folgen der Spur. Die Abdrücke sind bereits von der Hitze ausgehärtet. Die Fährte führt durch eine Art Riff, das aussieht wie eine Kolonie versteinerter Blumenkohle.
Ticinosuchus – der Herrscher der Küste
Hinter dem Riff sehen wir eine Echse, die über einem Kadaver steht. Es ist ein etwa drei Meter langer Ticinosuchus. Das Tier schaut kurz auf, dann reisst es ein weiteres Stück Fleisch aus seiner Beute und verschlingt es gierig. Kauen hat die Evolution noch nicht erfunden.
Einen Feind scheint dieser Ticinosuchus nicht zu fürchten, denn er steht hier im Glarnerland des Trias-Zeitalters an der Spitze der Nahrungskette. Ticinosuchus bedeutet so viel wie Tessiner Krokodil – denn dort wurden seine Überreste zum ersten Mal gefunden. Es hat die spitzen Zähne eines Raubtiers und Panzerplatten an seinem ganzen Körper.

Zwei kleinere Ticinosuchus schleichen in sicherem Abstand um den grossen Ticinosuchus und seine Beute herum. Sie müssen sich damit begnügen, einige Fische aufzuschnappen, die im Schlamm zappeln. Es ist das Buffet vor dem Sturm.
Die Böen werden immer stärker. Der grosse Ticinosuchus hält seinen Kopf in den Wind. Irgendetwas scheint ihn zu beunruhigen, denn er lässt von seiner Mahlzeit ab und rennt davon in Richtung der Küste. Er ist erstaunlich flink auf seinen Beinen, die direkt unter seinem Körper stehen. Auch seine kleineren Artgenossen machen sich aus dem Staub.
Der Giraffenhalssaurier und sein unglückliches Schicksal
Wir werfen einen Blick auf den angefressenen Kadaver, den der grosse Ticinosuchus zurücklässt. Das tote Tier hat einen fast schon komisch langen Hals, der drei Mal so lang ist wie sein Rumpf. Es ist ein Giraffenhalssaurier.


Wahrscheinlich blieb dieser Exzentriker der Evolution gestrandet zurück, als der Küstenstreifen, auf dem wir uns befinden, trockenfiel. Das Wasserreptil atmet zwar Luft, stellt sich an Land aber ziemlich ungeschickt an – und war für den Ticinosuchus eine leichte Beute. Er tötete den Giraffenhalssaurier mit einem einzigen Biss in den Hals.
Hurrikane in der Urzeit
Während wir den Kadaver begutachten, bläst der Wind immer stärker. Wir können uns kaum noch auf den Füssen halten. Das hier ist kein gewöhnlicher Sturm, sondern ein Hurrikan. Die Winde sind so stark, dass sie das Wasser vor sich hertrieben – so hat der Tropensturm das Meer vor der Küste trockengelegt, wenige Stunden bevor wir hier ankamen. Doch ein Hurrikan dreht sich im Kreis. Bald kehrt das Wasser zurück und eine Sturmflut wird alles wegspülen, was in ihrem Weg steht.
Es wird Zeit, dass wir verschwinden. Wir stemmen uns gegen die Böen und starten unsere Zeitmaschine. Am Horizont sehen wir die Wasserwand auf uns zurollen.
Die Wissenschaft hinter der Geschichte
Welche Tiere lebten einst im Glarnerland? Die Serie «In einem Glarnerland vor unserer Zeit» nimmt uns in drei Folgen mit in die Vergangenheit. Hier gibt es die erste und die zweite Folge zum nachlesen. Die eigentliche Handlung des Textes erfunden, doch die Beschreibungen der Tiere und der Landschaft beruhen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Am Tödi findet man heute versteinerte Saurierspuren. Die Fussabdrücke erstrecken sich über eine 500 Quadratmeter grosse Fläche und stammen von mindestens acht Tieren, die vor 240 Millionen Jahren entlang eines Strandes liefen. «Ein Hurrikan, der die Fussspuren schnell zudeckte, könnte eine mögliche Erklärung für deren Erhalt sein», sagt der Glarner Geologe Mark Feldmann. Er hat die Spuren wissenschaftlich untersucht. Sie entstanden vermutlich innerhalb weniger Stunden oder sogar Minuten. Wie genau es dazu kam, bleibt ungewiss. Die Spuren stammen von Archosauriern, den vorherrschenden Reptilien, bevor sich die Dinosaurier entwickelten. Wahrscheinlich war ein Ticinosuchus oder ein sehr ähnlicher Archosaurier der Verursacher.
Fossilienfunde aus dem Tessin und Italien belegen, dass Ticinosuchus vor etwa 240 Millionen Jahren lebte und eng mit heutigen Krokodilen verwandt ist. Manche Exemplare wurden mit Fischen im Magen gefunden. Wie Fossilien am Monte San Giorgio bei Lugano zeigen, teilte er sich seinen Lebensraum mit Giraffenhalssauriern der Gattung Tanystropheus – diese lebten vorwiegend im Meer, während Ticinosuchus die Küstenregion bevorzugte. Obwohl im Glarnerland selbst keine Ticinosuchus-Fossilien aus dieser Zeit gefunden wurden, zeigen die Spuren, dass zumindest ein sehr ähnliches Tier hier im Glarnerland herumstreifte.
Die versteinerten Blumenkohle sind sogenannte Stromatholiten. Diese werden von Bakterien gebildet. Auch sie findet man in derselben Gesteinsschicht am Tödi wie die Fussabdrücke. Auch die tropischen Stürme in dieser Zeit lassen sich am Tödi nachweisen: Man findet ganze Lagen von zerbrochenen Muscheln, die nach Stürmen abgelagert wurden. Das Phänomen des verschwindenden Wassers tritt auch heute vor besonders starken Hurrikanen auf. Die Schwefelquellen im Glarnerland zeugen bis heute vom Meerwasser, das damals am Rand der Lagune verdunstete.
Wer mehr darüber wissen will, wie sich das Glarnerland über die Jahrtausende und Jahrmillionen verändert hat, sollte Mark Feldmanns Buch «Ausflug in die Glarner Geologie» lesen. Dieses widmet auch den Fussspuren am Tödi ein Kapitel.
Ueli Weber ist stellvertretender Redaktionsleiter der «Glarner Nachrichten». Er hat die Diplomausbildung Journalismus am MAZ absolviert und berichtet seit über zehn Jahren über das Glarnerland. Mehr Infos
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